Schreibkraft
Heiner Frost

Zirkuszauber

Man kommt nachhause. Erste Aktion: Vielleicht mal den Fernseher zerhacken. Zirkus ist das wahre Leben. Rückblende …

 

Sicher ist sicherer

„Lust auf Zirkus?“ „Wo ist der Haken?“ „Gibt keinen. Samstag, 15 Uhr, Zirkus Roncalli, Krefeld.“ „Okay. Kann ich jemanden mitnehmen?“ „Klar.“ „Ich frag die Tochter. Wenn sie Lust hat, bin ich dabei.“ So fing es an. „Am besten bist du eine Stunde vorher da. Dann zum Tourneebüro. Da liegen deine Karten.“ Eintreffen in Krefeld: 13.50 Uhr. (Sicher ist sicherer.) „Einlass ist dann um 14.30 Uhr“, sagt ein freundlicher Mann in roter Uniform mit goldenen Streifen und schwarzen Schuhen mit weißen Gamaschen. Er sagt das so, als stünde er hier nur für mich. So beginnt ein schöner Nachmittag.

Die Band, das Band

Käffchen vorneweg. Später Popcorn. Im Zelt probt noch die Band, die eigentlich „Roncalli Royal Orchestra“ heißt. Na bitte, denke ich: Live-Musik. Das hat doch was. Anderswo ist aus der Band ein Band geworden – eine CD, ein Sample. Knopfdruck und los geht‘s. Ein Band kann nicht reagieren – eine Band wohl. Und wie! Man kommt in Stimmung. „Wann warst du zuletzt im Zirkus?“, fragt die Tochter. „Müsste ich Mama fragen. Die hebt ja die Eintrittskarten auf. Gibt‘s eigentlich noch Tiere beim Zirkus?“ „Bei Roncalli seit 2018 nicht mehr.“ Früher hat man ja, bevor es ins Zelt ging, den Kamelen guten Tag gesagt oder den Elefanten. Man hat die Löwen beäugt. Alles Geschichte. Ob der Circus noch seinen Zauber ausübt?

Überschallzirkus

Einlass: 14.30 Uhr. Auf in die Loge. Ein Zelt füllt sich mit Erwartungen. Die Vorstellung: Ausverkauft. Und dann: Kurze Ansage. Handys aus. Fotografieren erlaubt. Film- und Tonaufnahmen nicht. „Sie dürfen gern rauchen, aber nur draußen.“ Ich schalte den Flugmodus ein. Der Nachmittag – das wird sich herausstellen: Überschallzirkus erster Klasse.
Dann setzt die Musik ein. Das Licht geht an. Der Zauber setzt ein. Ab Sekunde eins. Da kommt einer und setzt die Schwerkraft außer Betrieb: Jonglage. Man glaubt nicht, was möglich ist. Drei Keulen, dann reicht jemand eine vierte, dann eine fünfte, eine sechste. Die Musik legt sich ins Zeug. Wenn der Jongleuer Pause macht, gießt die Band Öl ins Stimmungsfeuer und sobald der Takt eindeutig ist, wird geklatscht.

Gesten als Garnitur

Zirkus – das ist nicht nur das Eigentliche: Es sind nicht nur Artistik, Akrobatik, Spannung und Klamauk – es sind auch die Gesten als Garnitur: Das Makeup für die Artisten. Roncalli leistet sich nicht nur das „Royal Orchestra“ – sie haben auch ein Ballett. Es gibt keinen Leerlauf in der Vorstellung: Alles ist Bewegung. Alles ist und bleibt im Fluss.

Feuerwerk

Da unten im Manegenrund brennen sie ein Feuerwerk ab, dass einem der Mund offen steht und die Augen groß und größer werden. Da unten im Manegenrund läuft ein perfekt eingestelltes Uhrwerk aus Klang, Licht und Aktionen. Zwischendrin immer wieder: Lachenmacher. Lachen ist ansteckend. Eine Frau zwei Ränge tiefer kämpft gegen einen Lachkrampf. Sie bekommt kaum Luft. Gnade gibt es nicht.
Spaßmacher brauchen keine Sprache. Sie streuen Gesten aus, die jeder übersetzen kann. Die Worte zwischendrin: Stimmungsverstärker.

Die Zeit fliegt

Manche da unten im Manegen-Rund verdrehen die Körper, als wären sie Latexfiguren aus einem 3-D-Menschendrucker. Man mag kaum hinsehen. Gleich werden sie Gelenke ausrenken, denkt man. Gleich wird ein Arzt kommen und die Teile wieder an die richtigen Stellen rücken müssen.
Die Zeit fliegt – auch ohne Löwen und Elefanten. Nichts fehlt. Man fiebertlacht ununterbrochen. Es ist wie vorhin bei dem Typ in der roten Uniform mit goldenen Streifen: Da unten, denke ich, arbeiten sie alle nur für mein Glück. Zirkus ist der Zauber, dass jeder hier das denkt: Sie arbeiten alle nur für mich.
Nie hätte ich gedacht, dass mich das Zirkusfieber packen würde. Du fährst dahin, hatte ich gedacht – siehst zweieinhalb Stunden Vorstellung (Pause inklusive), fährst zurück. Fertig. Jetzt stehen mir vor Lachen die Tränen in den Augen – und manchmal ist es auch nicht das Lachen …

Wunderkino

Nach der Pause wird die Manege zum Wunderkino. Auf einer gazeartigen Leinwand zeigen sie ein Stück Zirkusgestern: Ein Elefant macht Handstand, Pferde traben durch die Manege: nichts als ein Lichttraum, der einen beim Erinnern packt und Melancholie wachruft.
Was nicht auf dem Manegenboden stattfindet, beobachtet man in luftiger Höhe. Es sieht alles so leicht aus – aber so ist es immer, wenn Menschen ihr Handwerk – nein, ihre Kunst – perfekt beherrschen.
In der Manege werden Menschen verschwunden: weg sind sie und tauchen an anderer Stelle wieder auf. Früher sprach man von Zauberern: Hier ist eine Zauberin am Werk, aber halt: Heutzutage spricht man von Illusionisten. Schade eigentlich, dass man den Zauber so sachlich betrachtet. Vielleicht verschwinden die Menschen doch wirklich unter einem wehenden Tuch. Zirkus ist keine Illusion. Es ist ein Zauber – einer der vor dem Alter nicht Halt macht und auch vor sonst niemandem …

Der Elefant als Erinnerung an alte Zeiten. Seit 2018 arbeitet Roncalli „tierfrei“. Foto: HF

Musiker zum Mitreisen

Nach 90 Minuten denke ich darüber nach, dass die Band kaum eine Pause hatte. Die da oben über dem Eingang mit Tönen zaubern, sind allesamt famos. Man möchte sich gleich bewerben: Musiker zum Mitreisen. Der Zirkus: ein Ballett. Ich verschicke Bilder an Bekannte: „Müsst ihr euch angucken. Un-be-dingt. Es ist gran-di-os. Absolut gran-di-os.“ Das hier ist Oper, Musical, Sportfest, Konzert und Kino an einem Ort. Das hier ist Überlebenshilfe im Alltagsgrau. („Wo warst du?“ „Im Zirkus.“ „Wie war‘s?“ „Unbeschreiblichwunderbar.“

No Problem

Alles wird angesprochen: der Reiz des Sensationellen, des Magischen, des Lustigen. Da teilt einer das Publikum in drei Gruppen. Klatschen sollen sie. Auf sein Zeichen. Bei zwei Gruppen klappt es wunderbar. Die dritte Gruppe bekommt es nicht hin. „No problem.“ Am Ende lachen alle über alle. Am Ende klatschen drei Guppen zum Donauwalzer. Spaß auf höchstem Niveau. Alles ist ganz einfach. Aber es ist eben ganz einfach perfekt. Und immer, wenn man denkt, jetzt ist keine Steigerung möglich, kommt: eine Steigerung. Immer wieder sorgt die Band für den Zusammenhalt. Sie wird zum Stimmungsseismograph. Alles hier passt auf- und ineinander. Da entsteht der Eindruck, dass alle da unten ein großes Team sind. Niemand ist unwichtig. Niemand.

Ade mit Morricone

Als es ans Ende geht, dreht die Band noch einmal voll auf. Applaus, Applaus. Es ist wie beim Ballett: Erst treten alle auf, dann die Stars einzeln und wenn man denkt, dass nichts mehr geht, spielt die Band Ennio Morricones wunderbartraurige Musik aus „Es war einmal in Amerika“ und man versinkt in wohligem Abschiedsscherz. Was man gesehen hat, war einfach allumfassend wunderschön. Der Zirkus: das Leben.

Jetzt nachhause fahren und den Fernseher zerhacken. Und am besten morgen wieder nach Krefeld fahren, um mit all den anderen, die zufällig auch da sind, zu lachenweinen. Wenn jemand ein großartiges Erlebnis möchte – ich hätte da eine Idee. Echt. Es grüßen: Das Roncalli Ballett, das Trio Bokafi, Weißclown Gensi, das Duo Turkeev, Professor Wacko, Nathalie Bru, Duo Cardio, der Clown Matute, Canutto Jr., Andrey Romanovski, Alisa Shehter, Noel Aguilar, Alexandra Seebel, die Andem Crew, Zhenyu Li und das Roncalli Royal Orchestra.

Der Zirkus Roncalli ist noch bis zum 23. Juni in Krefeld zu Gast.